Einleitung

Dem Worte τέχνη liegt ebenso wie den verwandten Bildungen τέκτων, τέκταινα, τεκταίνομαι, vielleicht auch τόξον [1] die Würzel *tekso zu Grunde, die sowohl im Griechischen als überhaupt in den indogerm. Sprachen die Bedeutung 'zimmern, künstlich wirken, fertigen' hat. [2]
Τέχνη ist so ursprünglich die Beschäftigung, das Tun des τέκτων, des Zimmerers, auch des Webers (texere, textor), vielleicht auch des Jägers (τόξον), also wohl überhaupt das älteste Handwerk.
Später steht dann τέχνη verallgemeinert für jedes Handwerk überhaupt, so schon bei Homer, der eine τέχνη des Schmiedes (γ 433) und Silberschmiedes (η 234) usw. kennt.
Über diesen Kreis der sogenannten χειροτεχνικαί der 'Handwerken' [3] hinausgehend bezeichnet man dann als τέχνη die Beschäftigung {2|3} eines jeden δημιουργός, auch wenn diese Beschäftigung nicht mehr allein die Tätigkeit der Hände, sondern überwiegend oder ganz die geistigen Kräfte beansprucht. [4] Τέχνη in dem bis jetzt besprochenen Sinne als handwerksmäßige Beschäftigung, die gegen Entgelt betrieben wird, hat, selbst wenn sie geistiger Art ist, im Griechentum immer als eines ἐλεύθερος unwürdig gegolten.
Die τέχνη ist von vornherein charakterisiert durch ein bestimmtes Wissen, das zu der rohen Arbeit der Hände, dem πόνος oder ἔργον, hinzukommen muß. Während aber zunächst dem theoretischen Wissen gegenüber die manuelle Arbeit bei weitem überwiegt, weil die seit unvordenklicher Zeit überlieferte Handwerksregel sich von selbst zu verstehen scheint, und alles nur auf die Ausführung der Arbeit und auf das Können ankommt, [a] tritt bei fortschreitender Kulturentwicklung das Manuelle auf in der τέχνη immer mehr hinter dem Geistigen und der Erfindung zurück; und schließlich entstehen τέχναι, denen nichts Manuelles mehr anhaftet, deren ganzen Inhalt geistiges Wissen ist. So bezeichnet man denn schließlich als τέχνη jedes—auch nicht handwerksmäßig und gegen Entgelt betriebene—Können, das der Sachverständige (τεχνικός) von dem Laien (ἰδιώτης) voraus hat, und nach dem er seine Benennung erhält. {3|4}
Den Ausdruck τέχνη in der bis jetzt besprochenen Bedeutung gibt man im Deutschen im Allgemeinen mit dem an das betreffende Fach angehängten—'Kunst' wieder. Der Grieche sagt in diesem Falle, um irgend ein Beispiel zu gebrauchen, ursprünglich τέχνη τοῦ ὑφάντου, dann τέχνη ὑφαντική, schließlich nur ὑφαντική [sc. τέχνη].
Neben dieser allgemeinsten Bedeutung wird das Wort τέχνη im Griechischen noch in mannigfach anderem Sinne angewandt. Spricht der Grieche—ohne wie in den obigen Fällen das betreffende Fach anzugeben—, schlechthin von eines Mannes Handwerk, Beruf, Metier, Profession, Beschäftigung, Aufgabe, (Spezial-) Fach, Stand, Amt, Geschäft, Manier usw., so gebraucht er auch hierfür den Ausdruck τέχνη.
Auch die Geschicklichkeit, Routine, Kunstfertigkeit, das Können und Wissen, die Wissenschaft des ausübenden Subjektes wird mit τέχνη bezeichnet.
Andrerseits gebraucht der Grieche, mehr in hinsicht auf das Objekt, das Wort τέχνη für die Künstlichkeit der Arbeit, das Künstliche, die Künstelei, das Kunstwerk, auch wohl für das Künstlerische und die Kunst im modernen ästhetischen Sinne, wenn er für letzteres auch gewöhnlich andere Ausdrücke verwendet.
Neben einem Handwerk in seiner Gesamtheit bezeichnet der Grieche auch die einzelnen Handgriffe, die der Handwerker anwendet, das Mittel, dessen er sich bedient, die "Technik", das Verfahren mit dem Worte τέχνη. {4|5}
Wenn das intellektuelle Moment, das in dem Begriffe τέχνη liegt, nach der üblen Seite ausgeprägt wird, gewinnt τέχνη die Bedeutungen: Pfiffigkeit, Witz, List, Kniff (z.B. Advokatenkniff), Gaunerei, Betrug, Ränke, Intrigue. In dieser Bedeutung ist es als techna, techina in die römische Komödie übergegangen.
Mit τέχνη bezeichnete man dann weiter eine spezielle Wissenschaft, freilich nicht in unserem modernen Sinne von Wissenschaft als rein-wissenschaftlicher Forschung, sondern als ein System von Regeln, deren Anwendung auf einem speziellen Tätigkeitsgebiete verlangt wird. Schließlich kam man so dazu, auf eine Lehrschrift, die diese Regeln enthält, mit dem Namen τέχνη zu belegen. So gibt es z.B. eine τέχνη ῥητορική, τέχνη γραμματική, τέχνη μαθηματική, [5] τέχνη ἰατρική, τέχνη ἐρωτική resp. ars amandi, von Horaz die bekannte ars poetica, Lehrschriften über die Regeln und Vorschriften dieses speziellen Gebietes.
In späterer Zeit verstand man in Gelehrtenkreisen, wenn man von τέχνη schlechthin sprach, darunter die eine dominierende Schulwissenschaft, sei es die Rhetorik, die Mathematik oder die Grammatik, wie denn auch zu dieser Zeit unter dem τεχνικός schlechthin der Rhetor, Mathematiker resp. Grammatiker verstanden wurde. {5|6}
Daß man ganz spät mit τέχνη eine (grammatische) Regel bezeichnet, sei noch hinzugefügt. In diesen mannigfaltigen Bedeutungen, soweit sie seiner Zeit geläufig waren, finden wir das Wort τέχνη auch bei Plato angewandt. Aber darüber hinausgehend spielt die τέχνη bei ihm noch eine besondere bedeutsame Rolle. Seinem Meister Sokrates hatten die τέχναι der Handwerker auf dem Markt die Beispiele für seine ethischen Lehren gegeben. Plato findet in den τέχναι—sowohl in den Handwerken als in den bestehenden positiven Wissenschaften, vor Allem in der τέχνη ἰατρική, die sein Denken am meisten beeinflußt hat—, indem er auf den positiven Gehalt der τέχνη in wissenschaftlicher, ethischer und künstlerischen Beziehung zurückgeht, vielfach Richtlinien für die Tektonik seiner abstrakten eigenen Lehren.
Die Hauptquelle für diese über Sokrates hinausgehende Auffassung und Auswertung der τέχνη ist der "Gorgias", der erste große selbständige Versuch Platos. Bisher hatte er wesentlich im sokratischen Unterredungsstile Fragedialoge verfaßt; mit den konstruktiven Grundbegriffen seiner eigenen ethisch-politischen Systematik treten im Gorgias, diesem großen positiven Bekenntniswerk, zum erstenmal auch die Einflüsse fremder Wissenschaften auf seine Methode deutlich hervor. Es ist wichtig, daß diese Grundbegriffe und Lehren in den Teilen besonders heraustreten, wo das platonische Sokrates gegen die Gewohnheit des historischen Sokrates zu längeren theoretischen Ausführungen das Wort ergreift. {6|7}

Footnotes

[ back ] 1. Cf. Prellwitz, Etymol. Wörterbuch d. Gr. Sprache s.v.; dagegen freilich Boisacq, Dictionnaire de la langue grecque.
[ back ] 2. Cf. ai. táksā (Lt. táksan) der 'Zimmermann'; ahd. dehsa 'Hacke, Kelle'; ai. takṣ (takṣati, takṣnoti, tāsti) 'behauen'; apers. takhṣ 'bauen'; av. taṣ 'schneiden, zimmern'; lit. taszýti 'schneiden, zimmern'; lett. téshn, teschn '(Balken) behauen, glatt machen', tésele 'Hohleisen'; ksl. tesati 'hauen', tesla 'Azt'; lat texo 'weben'; mhd. dëhsen 'Flachs brechen'; ahd. dahs; nhd. Dachs (eigentlich der 'Bauende'). Cf. Prellwitz u. Boisacq a.a.O.
[ back ] 3. Eine gute Wesenscharakteristik eines Hand-werks gibt Homer Ε 62: ὃς χερσὶν ἐπίστατο δαίδαλα πάντα τεύχειν.
[ back ] 4. Schon bei Homer (ρ 384) ist δημιουργός nicht nur der τέκτων und der ἰατρός, den man in etwa noch den Hand-Arbeitern zuzählen könnte, sondern auch der ἀοιδός und der μάντις.
[ back ] 5. Von einer τέχνη μαθηματική kann man jedoch nur in sekundärem Sinne reden, wenn man sich des primären grundlegenden Gegensatzes von τέχνη und μάθημα nicht mehr klar bewußt ist; ursprünglich sagt man τὰ μαθήματα wegen des Fehlens einer Beziehung auf die Praxis und das Handwerk.
[ back ] a. und alles ... ankommt om. B